Würdigung
Auf Vorschlag der Joachim Jungius-Gesellschaft
der Wissenschaften verleiht die
DR. HELMUT UND HANNELORE GREVE STIFTUNG
FÜR WISSENSCHAFTEN UND KULTUR
den Förderpreis an
Herrn Dr.-phil. Holger Klärner
Philosophisches Seminar, Universität
Hamburg
Der Schluss auf die beste Erklärung spielt nicht nur im Alltag und in den empirischen Wissenschaften, sondern auch in der Philosophie eine zentrale Rolle. Herr Dr. Klärner hat in seiner Dissertation gezeigt, dass trotz der offensichtlichen Relevanz dieses Schlusstyps ein erheblicher Klärungsbedarf besteht. Dazu hat er in einer subtilen Analyse nachgewiesen, dass keines der gegenwärtig in der Wissenschaftstheorie diskutierten Erklärungsmodelle geeignet ist, als Basis für eine präzise Explikation dieser so genannten Abduktionsschlüsse zu dienen. Er hat darüber hinaus in einer detaillierten Erörterung von Argumenten für und wider den Schluss auf die beste Erklärung gezeigt, wie überraschend wenig Veranlassung wir haben, von der Zuverlässigkeit dieses Schlusstyps überzeugt zu sein.
Hamburg, am 22. November 2002
(Prof. Dr. Helmut Greve)
(Dr. h. c. Hannelore Greve)
Stiftungsvorstand
Danksagung von Dr. Holger Klärner
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr verehrtes Ehepaar Greve, sehr geehrte Damen und Herren!
Ich freue mich sehr über die Auszeichnung mit dem Förderpreis
der Dr. Helmut und Hannelore-Greve Stiftung für Wissenschaften
und Kultur. Mein Dank gilt zunächst Ihnen, sehr verehrtes
Ehepaar Greve, als Stiftern des Preises. Ebenso bedanke ich mich
beim Vorstand der Joachim Jungius-Gesellschaft, der meine Arbeit
für die Auszeichnung vorgeschlagen hat. Zu Dank verpflichtet
bin ich weiterhin dem Betreuer meiner Arbeit, Herrn Professor
Ulrich Gähde, sowie dem Zweitgutachter Herrn Professor Wolfgang
Künne, die mich während der Entstehung der Arbeit auf
vielfältige Weise unterstützt und gefördert haben.
Ferner gilt mein Dank dem gesamten Philosophischen Seminar der
Universität Hamburg und hier besonders Frau Professorin Dorothea
Frede sowie meinen ehemaligen Kollegen aus dem Mittelbau.
Um Ihnen das Thema meiner Arbeit mit dem Titel "Der Schluß
auf die beste Erklärung" zu veranschaulichen, möchte
ich Ihnen gern drei kurze Beispiele schildern. Zunächst möchte
ich Sie bitten, sich einen Spaziergänger vorzustellen, der
am Strand entlang geht und vor sich im Sand Fußspuren entdeckt.
Er fragt sich, was es mit den Fußspuren wohl auf sich habe.
Die beste Erklärung für die Spuren scheint ihm darin
zu bestehen, dass ein anderer Mensch vor ihm den Strand entlang
gegangen sein muss. Andere Erklärungen erscheinen ihm zwar
denkbar, aber er hält die von ihm gefundene für die
beste. Aus diesem Grund schließt er auf diese Erklärung
und nimmt an, dass tatsächlich ein anderer Mensch den Strand
entlang gegangen sein muss.
Ein zweites Beispiel: Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entdecken
die Astronomen Adams und Leverrier Unregelmäßigkeiten
in der Umlaufbahn des Planeten Uranus, die mit den Vorhersagen
der Newtonschen Gravitationstheorie nicht vereinbar sind. Die
beste Erklärung für diese Unregelmäßigkeiten
scheint ihnen in der Existenz eines bis dato noch unentdeckten
Planeten zu bestehen, der die Abweichungen in der Uranus-Bahn
verursacht. Aus diesem Grund schließen sie darauf, dass
es tatsächlich einen anderen Planeten mit den von ihnen postulierten
Eigenschaften gibt.
Ein drittes Beispiel: Die verschiedenen Theorien, die in den heutigen
Einzelwissenschaften entwickelt werden, sind zumindest zum Teil
sehr erfolgreich. Sie erlauben präzise Vorhersagen von Daten,
sie sind technologisch anwendbar usw. Eine Gruppe von Philosophen
- die sogenannten Realisten - argumentieren, dass die beste Erklärung
für diesen Umstand darin bestehe, dass die betreffenden Theorien
buchstäblich wahr sind und die Welt so beschreiben, wie sie
tatsächlich ist.
Bei diesen drei kurzen und vereinfachten Beispielen handelt es
sich um Schlüsse auf die beste Erklärung: Bestimmte
Phänomene werden beobachtet - Fußspuren im Sand, Abweichungen
in der Bahn des Uranus oder der Erfolg wissenschaftlicher Theorien.
Eine bestimmte Erklärung für das jeweilige Phänomen
- ausgewählt aus einer Klasse von zu einem bestimmten Zeitpunkt
zur Verfügung stehenden Erklärungen - wird für
die beste gehalten, und auf diese Erklärung wird geschlossen.
Wie die genannten Beispiele illustrieren, kommt der Schluss auf
die beste Erklärung sowohl im Alltag als auch in den Einzelwissenschaften
sowie in der Philosophie häufig vor und besitzt zumindest
prima facie eine hohe Plausibilität. Einige Philosophen gehen
sogar soweit, den Schluss auf die beste Erklärung als das
zentrale Schlussmuster im Bereich der nicht-deduktiven Schlüsse
zu bezeichnen. Wenn diese Einschätzung zutreffend ist, dann
stellt sich natürlich die Frage, ob wir dem Schluss auf die
beste Erklärung vertrauen können. D.h.: Handelt es sich
bei ihm um ein Schlussmuster, das uns von wahren Annahmen wahrscheinlich
zu einer wahren Konklusion führt? Diese Frage nach der Verlässlichkeit
von Schlüssen auf die beste Erklärung ist die Leitfrage
meiner Arbeit.
Ein erster Schritt zur Beantwortung dieser Frage besteht darin,
erst einmal zu klären, worum es sich bei einer Erklärung
eines Phänomens eigentlich handeln soll. Zu diesem Zweck
habe ich im ersten Teil meiner Arbeit die wichtigsten Theorien
zum Begriff der Erklärung untersucht - mit dem Ergebnis,
dass letztlich keine dieser Theorien den Begriff der Erklärung
auf befriedigende Art und Weise explizieren kann - unabhängig
davon, ob bei dieser Explikation auf den Begriff des Gesetzes,
der Vereinheitlichung oder etwa der Kausalität rekurriert
wird. Dieses Resultat ist für einen Anhänger des Schlusses
auf die beste Erklärung bereits relativ unbefriedigend -
denn offensichtlich kann die Rede vom Schluss auf die beste Erklärung
nicht klarer sein als der Begriff der Erklärung selbst. Damit
aber nicht genug: Wie sich im zweiten Teil meiner Arbeit zeigt,
können die vielfältigen erkenntnistheoretischen Argumente,
die von verschiedenen Seiten für den Schluss auf die beste
Erklärung ins Feld geführt werden, einer kritischen
Prüfung nicht standhalten - d.h. sie können die Verlässlichkeit
dieses Schlussmusters nicht zuverlässig begründen.
Das Ergebnis meiner Arbeit ist also ein erkenntniskritisches:
Es lassen sich aus wissenschaftstheoretischer bzw. erkenntnistheoretischer
Sicht zumindest bisher keine guten Gründe für die Verlässlichkeit
des Schlusses auf die beste Erklärung finden - trotz seiner
offensichtlichen praktischen Relevanz. Zum einen fehlt eine solide
Basis, auf der dieses Schlussmuster aufbauen könnte - nämlich
ein präzises und befriedigendes Erklärungsmodell. Zum
anderen fehlen gute Argumente für die Annahme, dass die beste
Erklärung immer oder auch nur mit hoher Wahrscheinlichkeit
die wahre Erklärung ist. Die großen Hoffnungen, die
viele Philosophen - insbesondere die Realisten - in den Schluss
auf die beste Erklärung setzen, sind somit - um zum Ausgangsbild
zurückzukommen - auf Sand gebaut.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!